Einmal etwas ganz besonderes aus meinem anderen Wirkungskreis.
Zwei Frauen, zwei ganz unterschiedlich gearbeitete Bühnen - ein großes Repertoire auf beiden Bühnen.
Gabriele Brunsch: "Der blaue Schleier" Helga Kelber: "Anderwelt" (s. Foto)
Die Art, wie die Papiertheater-Kitzingen ihre Inszenierungen machen, erschafft, im ureigensten Wagnerischen Sinne, ein Gesamtkunstwerk.
Dieser Artikel erschien in der Mainpost in Unterfranken am 2. Oktober 2012 und hat ein großes Echo hervorgerufen.
Ein Sturm fegt über das Meer. Die Segel des Schiffes glühen, das Meer tobt und rollt. Der Fliegende Holländer ist, getrieben von seinem Fluch, auf dem Weg zu Senta . . .
Mucksmäuschenstill kauern die Zuschauer auf den 25 blauen Stühlen, die im kleinen Zuschauerraum des Papiertheaters in der Kitzinger Grabkirchgasse aufgestellt sind. Gebannt blicken sie auf die Märchenwelt, die sich auf der Miniaturbühne vor ihren Augen auftut. Seit der Vorhang hochgezogen worden ist, begleiten Licht- und Toneffekte die Szene. Aufwendig gefertigte Kulissen verdichten die Handlung, sorgen für Hochspannung und Atmosphäre. Die handelnden Personen, unter anderem Vater Daland, Tochter Senta und der Holländer, bewegen sich eigenwillig vor und zurück, hin und her. Immer wieder wechselt die Szene, vom Meeresstrand, wo ein Lagerfeuer flackert, zur Spinnstube, in der der Holländer mit Sentas Vater verhandelt, während der verliebte Eric hinter einem Kachelofen lauscht, bis das Unheil seinen dramatischen Verlauf nimmt.
„Papiertheater gibt es seit Beginn des 19. Jahrhunderts“, erzählt Gabriele Brunsch, eine der beiden Initiatorinnen des Theater-Kleinods, das in einem historischen Haus in Kitzingen ein Dach über dem Kopf gefunden hat. Ganz früher lebten dort Beginen, Mitglieder eines weltlichen Frauenordens. Seit 2003 leistet sich das Städtchen am Main ein Papiertheater hinter den dicken Mauern.
„Weil das echte Theater ausschließlich der privilegierten Schicht, dem Adel, vorbehalten war, hat sich das Großbürgertum besonnen und sein eigenes Theater fürs häusliche Wohnzimmer geschaffen“, ergänzt Theater-Partnerin und Brunsch-Freundin Helga Kelber. Zur Erbauung der Familie, vornehmlich der Erwachsenen, ergötzten sich Vater, Mutter, Onkel, Tante an den Dramen der Klassik, und sicher schlich sich so manches Kind im Schutz der Dunkelheit in den einen oder anderen Theaterabend.
Dem Spiel voraus gingen Bastelabende, bis die gerade erwachende Industrie die Marktlücke entdeckte und große Bögen bedruckte. So konnten die Bürger der Biedermeierzeit, die eine eigene Bilderbogenkultur entwickelte, die wichtigsten Figuren aus zeitgenössischen Opern und Schauspielen in Schwarz-Weiß erwerben und sie in liebevoller Kleinarbeit selbst bemalen. Mit Einsetzen der Farblithografie gab es neben Text- und Musikheften die Bögen in Farbe und in unterschiedlichsten Varianten zu kaufen, Goethes Faust nebst Mephisto ebenso wie Shakespeares Hamlet oder das Käthchen von Heilbronn aus der Feder des Herrn von Kleist.
Die Begeisterung der beiden pensionierten Lehrerinnen für ihr arbeitsintensives Hobby hängt auch nach der Vorstellung noch im Raum, der Chor der Mädchen aus der Spinnstube klingt nach. Plakate und Bildtafeln an den Wänden machen Lust, auch die anderen angekündigten Produktionen zu besuchen. Denn Gabriele Brunsch und Helga Kelber sind unermüdlich damit beschäftigt, ihrer Kreativität und Fantasie freien Lauf zu lassen. Jede von ihnen entwirft ihr eigenes Stück für ihre Bühne, die doppelt so groß ist wie die historischen Guckkästen. Das können neu erfundene Texte sein, aber auch umgeschriebene Märchen und Sagen. Text, Figuren, Requisiten, Bühnenentwurf, Musikauswahl, Erzählung, Dramaturgie et cetera – alles ist jeweils von einer Frau selbstständig erarbeitet und auf eine CD gebannt, auf die Musik, eingesprochene Texte und Licht aufgespielt sind. „Wir haben schon genug zu tun mit den Figuren, da können wir nicht auch noch sprechen“, schmunzeln die beiden in stilgerechtes Schwarz gekleideten Frauen.
„Schon im Entstehungsprozess müssen sich Kulisse, Dramaturgie, Beleuchtung und Tontechnik im Kopf zusammenfügen“, ergänzt Gabriele Brunsch. Und Helga Kelber fügt an: „Wenn ich die Augen meiner Figuren ausmale, werden sie lebendig, treten sie mit mir in einen Dialog.“ Sie strahlt vor Begeisterung.
Vom ersten Gedanken an eine neue Produktion bis zur Fertigstellung vergehen zweieinhalb Jahre. Beim Spielen allerdings sind beide aufeinander angewiesen. In Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ müssen schließlich 14 Englein gleichzeitig bewegt werden. Das Libretto der bis heute häufig gespielten Oper schrieb die Schwester des Komponisten, die 1858 geborene Schriftstellerin Adelheid Wette, eine geraume Zeit vor der Vertonung. Es war jahrelang gern gespielte Vorlage für das Papiertheater.
Das Kitzinger Papiertheater ist die einzige regelmäßig bespielte Bühne in Süddeutschland und kann auch für häusliche Aufführungen gebucht werden. Denn dieses Gesamtkunstwerk scheint eine Renaissance zu erleben und immer mehr Freunde zu gewinnen. Die zehn bis 15 Zentimeter großen Figuren bezaubern und entführen in eine ganz eigene Welt.
Das Kitzinger Papiertheater gastiert vom 5. bis 8. Oktober mit dem Hauff-Märchen „Kalif Storch“ bei der Fine A.R.T.S. im Würzburger Kulturspeicher.
Von unserer Mitarbeiterin Ursula Düring